Der Spitzberg verdient unsere Liebe – und braucht mehr Aufmerksamkeit

10 Mrz von Gunter Neubauer

Der Spitzberg verdient unsere Liebe – und braucht mehr Aufmerksamkeit

Hirschau hat das Privileg, dass wir einen einzigartigen und landesweit bedeutsamen Naturraum direkt vor der Haustüre haben. Allerdings ist dies vielen Bürgerinnen und Bürgern, aber auch den zahlreichen Besucherinnen und Besuchern von nah und fern möglicherweise nicht bewusst.

Der Spitzberg ist einzigartig – als eines der artenreichsten Gebiete in Baden-Württemberg ist er ein Hotspot der Biodiversität: 5.900 Tier- und Pflanzenarten lassen sich am Berg nachweisen, darunter 79 verschiedene Brutvogelarten und 15 Säugetierarten. Das entspricht 26 % der Arten Baden-Württembergs auf nur 0,017 % der Landesfläche. Viele dieser landesweit wertvollen Arten brauchen eine Offenlandschaft mit lichten, sonnigen Flächen.

Der Spitzberg ist eine alte, offene Kulturlandschaft. Hier gab und gibt es Weinbau mit Trockenmauern, Streuobstanbau, magere Wiesen und lichten Wald. Naturschutz bedeutet hier v.a. Pflege und Erhalt der offenen Landschaft. Das Offenhalten ist allerdings auch ein Problem und eine der größten Herausforderungen am Spitzberg. Bei privaten wie auch städtischen Grundstücken geht es darum, den Wald- und Gehölzanteil mit seinen Schattenflächen zu reduzieren. Nur so können Offenflächen dauerhaft erhalten und vielleicht sogar vergrößert werden.

Auch die bewaldeten Bereiche am Spitzberg bedürfen besonderer Aufmerksamkeit. Erstrebenswert wäre eine Waldnutzung als lichter Mittelwald, so wie dies viele Jahrhunderte erfolgte. Dazu wären an geeigneter Stelle weitere Auslichtungen notwendig, um im Wald gezielt lichtreiche Flächen für gefährdete Lichtwaldarten zu schaffen.

Außerdem fällt im Waldbereich, v.a. im Bereich der Traufwege, aber auch bergab (z.B. an der Ammersteige und der Blumbersteige) eine starke Trittbelastung durch Mountainbiker auf. Leider verstoßen die Biker hier immer wieder gegen § 37 Landeswaldgesetz. „Einbauten“ wie Schanzen verstärken dabei noch die bereits deutlich sichtbare Erosionswirkung.

Aktuelle Probleme am Spitzberg

  • Beeinträchtigungen am Spitzberg entstehen auch durch unangemessenes Besucherverhalten. Das Hauptproblem ist aber die fehlende oder falsche Pflege von Grundstücken. So gab es in den letzten Jahr(zehnt)en deutlichen Zuwachs beim Hochwald und an Gehölzen auf früher offenen Flächen.
  • Es gibt eine ganze Reihe nicht gepflegter Grundstücke, die stark verbuschen oder sich bereits in einem waldähnlichen Zustand befinden. Diese sollten wieder freigeräumt und in Halbtrockenrasen verwandelt werden. Dazu muss der Gehölzbestand entfernt bzw. deutlich reduziert werden.
  • Gerade bei städtischen Grundstücken am Spitzberg sollte eine naturschutzfachlich gute und regelmäßige Pflege erfolgen. Die Unterhaltung der städtischen Grundstücke sollte eine Vorbildfunktion einnehmen und entsprechend überprüft werden.
  • Private Grundstückseigentümer könnten gezielt angesprochen und bei der Pflege unterstützt werden. Grundstücke, die nicht mehr selbst gepflegt werden können, können auch verpachtet oder an einen Naturschutzverband (z.B. VeBTiL, SHB) abgegeben werden.

Dass es am Spitzberg auf Hirschauer Gemarkung mit „Hirschauer Berg“ und „Spitzberg / Ödenburg“ gleich zwei Naturschutzgebiete gibt, ist oft weniger bewusst. Diese Gebiete sind derzeit unverbunden und jedes für sich ist relativ klein. Mehr denn je sollte deshalb das Vorhaben verfolgt werden, beide miteinander zu verbinden. Eine insgesamt größere und zusammenhängende Fläche würde einen gewichtigen Beitrag zum Schutz der Biodiversität am Spitzberg leisten. Denn auch hier macht sich trotz der bisherigen Maßnahmen schon der Rückgang der Artenvielfalt – v.a. bei den Insekten – bemerkbar.

Begriffsklärung: Biodiversität ist das Maß der Vielfalt des Lebens in einem bestimmten Gebiet. Dabei geht es um die Vielfalt von Lebensformen (Artenvielfalt), die Vielfalt von Lebensräumen (Ökosysteme, Biotope) und die genetische Vielfalt (innerhalb von Arten) gleichermaßen. Nach dieser Definition ist der Spitzberg ein echtes „Reservoir“ für Biodiversität.

Am 24. Februar fand unter großer Beteiligung eine Online-Veranstaltung statt, die Biodiversität in Tübingen zum Thema hatte. 11 Tübinger Initiativen und Vereine aus dem Natur- und Umweltschutz präsentierten und diskutierten dort ihre 11 kommunalen Biodiversitätsforderungen.

11 Forderungen, in der Biodiversitätskrise kommunal Verantwortung zu übernehmen

  1. Beitritt zum Bündnis „Kommunen für biologische Vielfalt e.V.“ und damit einhergehend das Bekenntnis zur Deklaration „Biologische Vielfalt in Kommunen“ im Jahr 2021
  2. Prominentere Stellung der Erhaltung der biologischen Vielfalt in den Ausschüssen des Gemeinderats, die Bündelung „grüner“ Themen der Stadtverwaltung in einer Stabstelle „Naturschutz und Artenvielfalt“ sowie die Erarbeitung eines „Masterplan Grün“
  3. Reduktion des Flächenverbrauchs, keine Überbauung und Umwidmung von wertvollen Böden
  4. Umsetzung von Maßnahmen zur Förderung vorrangig schutzbedürftiger Zielarten
  5. Naturnähere Gestaltung öffentlichen Stadtgrüns sowie Schutzmaßnahmen an Gebäuden
  6. Reduktion der Lichtverschmutzung
  7. Verbesserung des regionalen Biotopverbunds sowie Beitrag zum landesweiten Netz
  8. Aufnahme naturschutzfachlicher Auflagen in städtische Pachtverträge und Wegraine
  9. Aufnahme von Maßnahmen in der Agrarlandschaft in die Förderrichtlinien für städtische Zuschüsse zur Förderung der Biodiversität
  10. Förderung der Einrichtung eines Ernährungsrates in der Region Tübingen
  11. Erhöhung des Anteils von Bio-Lebensmitteln in der Essensverpflegung aller öffentlichen Einrichtungen

Viele dieser Forderungen können direkt auf den Naturschutz am Spitzberg bezogen werden.

Was wir tun können

Natur- und Umweltschutz ist eines unserer Kernthemen als Grüne Liste Hirschau, im Ortschaftsrat wie in Verein und Unterstützergruppe. Dabei wollen wir nicht nur „unter uns“ bleiben, sondern eine breitere Öffentlichkeit in Hirschau ansprechen. Coronabedingt war 2020 nicht alles möglich, was wir geplant hatten. Trotzdem gab es schon konkrete Aktivitäten:

  • Eine Pflegeaktion: Mitglieder der GLH haben im Februar die Ammersteige freigeschnitten, eine Fortsetzung ist geplant. Hier könnte der Hohlweg westlich der Ammersteige angegangen werden.
  • Ein Vortragsabend mit Prof. Gottschalk, Herausgeber des Spitzbergbuchs, musste leider schon zweimal abgesagt bzw. verschoben werden. Wir hoffen aber, dass das bald mal klappen wird.
  • Ersatzweise gab es im Sommer 2020 mit einer kleineren Gruppe von Interessierten und Ortschaftsrät:innen eine Begehung mit Herrn Gottschalk, der uns vieles in Erinnerung gerufen und manches auch neu erschlossen hat.

Bei der Begehung mit Herrn Gottschalk wurde deutlich, wie wichtig der Erhalt der Trockenmauern am Spitzberg ist. Trockenmauern sind ein äußerst wertvoller Lebensraum für Tiere und Pflanzen, der unbedingt geschützt, erhalten oder wieder aufgebaut werden muss. Dazu könnten eine Bestandserfassung und ein Ausbau des Trockenmauerprogramms beitragen.

Die Mischung macht’s

Die Mischung aus Weinbau, Streuobstwiesen und offenen Flächen am Spitzbergsüdhang soll erhalten werden. Erstrebenswert wäre darüber hinaus eine gezielte Beweidung von offen zu haltenden Flächen, die nicht anderweitig genutzt werden. Es gibt bereits Überlegungen für ein gemeinschaftliches „Ziegenprojekt“. Hierfür fehlt allerdings noch ein geeigneter Stall zwischen Berg und Ort.

Wir wollen uns weiter bemühen, interessierte, begeisterte und engagierte Bürger:innen anzusprechen. Teilnahme bei Pflegeaktionen z.B. gegen Verbuschung, verantwortungsvolle Gestaltung des eigenen Grundstücks oder Beschäftigung mit Fauna und Flora können so ineinander greifen. Vorbildliche Grundbesitzer, VeBTiL und SHB haben hier schon einiges geleistet. Vielen Dank dafür!

Uns allen sollte klar sein, dass Klimakrise und Schutz der Biodiversität eng zusammen hängen und gleichermaßen in den Blick genommen werden müssen. Eine interessante These in diesem Zusammenhang ist, dass es eigentlich nötig wäre, 50 % der Erde unter Naturschutz zu stellen. Nur so kann ein Raubbau an der Natur reduziert werden, der maßgeblich zur Klimakrise beiträgt. In diese Richtung geht auch die EU-Biodiversitätsstrategie für 2030 mit einer Verdopplung der Naturschutzfläche – aktuell sind in Europa nur 15 % geschützt.

Leisten wir hier einen bescheidenen aber nicht unerheblichen Beitrag, indem wir gemeinsam unser Juwel „Spitzberg“ erleben, begehen und schützend mitgestalten.

Barbara Göger

Zum Weiterlesen

Thomas Gottschalk: Der Spitzberg. Hotspot der Biodiversität. In: Tübinger Blätter 2021, S. 94 – 101.

Thomas Gottschalk (Hg.): Der Spitzberg. Landschaft, Biodiversität und Naturschutz. Ostfildern: Thorbecke, 2020.

Online-Artikel SHB-Naturschutzgebiet Spitzberg bei Tübingen

Veranstaltungshinweis

Der Schwäbische Heimatbund, selbst im Besitz von 4 ha und damit 13 % der Fläche im NSG Hirschauer Berg, plant eine naturkundliche Wanderung zum Spitzberg am 9. Mai 2021 von 10.00 bis 13.00 Uhr. Dazu ist eine Anmeldung beim SHB notwendig.

NSG Hirschauer Berg

Ausweisung zum Schutzgebiet am 30. Juli 1980

Größe 22,2 ha

Schutzzweck ist die Erhaltung der vielfältigen Flora wie Halbtrockenrasen (Mesobrometen), Gebüschstadien (z. B. Schlehen‑Weißdornbusch, Schlehen‑Ligusterbusch) und im oberen Hangbereich steppenheideähnlicher, lichter Kiefernwald, sowie die mit den Pflanzengesellschaften eng verbundene äußerst artenreiche Fauna.

NSG Spitzberg-Ödenburg

Ausweisung zum Schutzgebiet am 22. Oktober 1990

Größe 9,93 ha

Schutzzweck ist die Erhaltung eines südexponierten, kulturhistorisch bedeutsamen, wissenschaftlich interessanten Steilhangs mit Brachen, Halbtrockenrasen, Gebüschformationen, alten Weinbergmauern und ‑terrassen und Waldrändern, sowie die Erhaltung der extensiv betriebenen Streuobstnutzung. Diese sind Lebensräume für zahlreiche seltene und vom Aussterben bedrohte, insbesondere Wärme und Trockenheit liebende Pflanzen und Tierarten.

Schutz‑ und Pflegemaßnahmen werden durch Einzelanordnung oder in einem Pflegeplan ‑ für die Waldbereiche im Einvernehmen mit der Forstverwaltung ‑ von der höheren Naturschutzbehörde festgelegt.

Neben den beiden räumlich getrennten Naturschutzgebieten gibt es auch zwei Waldschutzgebiete (Schon- und Bannwald) am Spitzberg. Mit zusammen 85 ha bringen es die vier Gebiete auf weniger als die Hälfte der ursprünglich geplanten, zusammenhängenden NSG-Fläche von 200 ha.

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